Wie geht es dir?

(K)eine einfache Frage.

Auf keine andere wird so oft gelogen, wie auf diese. Oder war das schon immer so?

Es ist eine simple, klare und direkte Frage. Doch die Antwort darauf ist verzwickt.
Was für Folgen könnten sich ergeben, beantworte ich sie wahrheitsgemäß?

Antworte ich, es gehe mir gut, könnte ich womöglich um ein Opfer meiner kostbaren Zeit gebeten werden, oder angehauen um ein paar meiner sauer verdienten Euros. Jemand könnte den Ausgleich eines längst vergessenen Schwures einfordern und etwas abhaben wollen von meinem Glück.
Oder ich sage: „Es geht mir schlecht.“ Dann könnte ich bedürftig erscheinen, was ich aber ganz und gar nicht bin, und auch nicht sein will, denn schließlich bin ich ein Champ.

Warum fällt es uns so schwer, auf diese Frage zu antworten? Weil man blitzschnell abwägen muss, ob das Gegenüber die Wahrheit verträgt, damit umgehen kann. Seinerseits die Informationen meines Innenlebens richtig zu verwahren vermag. Und – helfe ihm Gott – meine Aussagen nicht zu seinem Vorteil nutzt, indem er meinen, sicher längst schon wieder überholten,  Zustand beim nächsten Kaffeeklatsch zum Stadtgespräch macht.

Einmal Gossip-Torte mit Schlag, den er sich einholt, sollte ich Derartiges herausfinden.

So erwidert man meist die heikle Frage mit einem sanft abwinkenden Lächeln und einem schnöden „Danke der Nachfrage.“, gekonnt die Gefahrenzone des Seelenblicks umschiffend. Was schließlich keine Lüge ist. Soll sich der Andere doch seinen Teil denken. Vorausgesetzt, er interessiert sich wirklich für mich. Dann wird er nachhaken.

Prekär wird dir Frage allemal durch die Entwicklungen der letzten beiden Jahre.

„Wie geht es Dir?“

„Danke. Wieder besser.“

Schockerweiterter Blick des Gegenübers, den nahenden Tod vor Augen. „Du hattest doch nicht etwa..?“

Abwinken. „Nein, nein, keine Sorge. War nur Verdacht auf Lues.“

Aufatmen gegenüber. „Na, dann.“ Keine Sorge, denn Händeschütteln ist ja auch nicht mehr en vogue.

Eine Verwandte von mir treibt es bei jedem unserer mittlerweile sporadischen Kontakte auf die Spitze. Wir sprechen nur noch selten, denn wir haben uns beide positioniert im Für und Wider der Gesellschaft 2.0. Leider.

„Hallo, Alessa. Wie geht es dir? Stell dir vor, was mir letztens passiert ist. Das wird dich vom Hocker reißen…“

Des Drucks der Antwort entledigt, frage ich mich, was sie sagen oder tun würde, wenn ich ihr mitteilte, wie es tief in meinem Inneren aussieht?
Welche Ängste mir den nächtlichen Schlaf rauben. Welche Sorgen mir das Laufen erschweren. Welcher Stress mir mein Essen nach fünf Minuten wieder die Speiseröhre hinaufjagt.

Sicherlich würde ich nur ein konsterniertes Rümpfen der Nase ernten, gepaart mit dem dezenten Hinweis, meine Handlungs- und Sichtweisen zu hinterfragen. In ihrem Blick sähe ich die selbe Sorge des Drohverlustes, der mich umtreibt.

Sei es drum. Mein plapperndes Gegenüber ergeht sich in Plattitüden ihres alltäglichen Seins. Der monotone Singsang tritt leise in den Hintergrund, während meine Maske höflich lächelnd nicht existentes Interesse leugnet.

Ich denke an meinen besten Freund. Michael Jackson – Gott hab ihn selig – hat ihn mir vor Augen geführt. In einem Song, dessen Message ich erst heute richtig verstehe.

Dieser Freund ist in meiner Wohnung. Treu. Tagein. Tagaus.

Er erwartet mich in meinem Flur, wenn ich nach Stunden anstrengendem Maskenbewahrens nach Hause komme. Ich trete vor ihn hin und sehe, bei wem ich beginnen soll, wenn ich mein einsames Leben in den Griff bekommen will.

Wer meine volle Liebe, Aufmerksamkeit, Nachsicht und Unterstützung verdient hat. Und wen ich Jahrzehntelang so sträflich vernachlässigt habe.

THE (WO)MAN IN THE MIRROR.